Keine nachhaltige digitale Zukunft ohne Gendergerechtigkeit

Dr. Kira Marrs ist Wissenschaftlerin am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) München e.V. Sie studierte Soziologie, Psychologie und Kriminologie an der LMU München und promovierte an der TU Darmstadt über „Neue Leistungskonzepte in der Dienstleistungswirtschaft.“

Ihre Forschung befasst sich mit dem digitalen Umbruch von Wirtschaft und Arbeit. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Förderung von Entwicklungs- und Karrierechancen von Frauen in der digitalen Arbeitswelt. Mit MEAG.COM sprach sie über Gestaltungsszenarien einer gendergerechten Arbeitswelt und digitale Führung.

Frau Marrs, Sie beschäftigen sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf Unternehmen und Arbeit. Starten wir mit Unternehmen – welche Auswirkungen haben Unternehmen zu erwarten?

Die digitale Transformation führt in Unternehmen zu grundlegenden Umbruchprozessen, die weit über technische Aspekte wie Big Data, Artificial Intelligence, Robotics oder Internet of Things hinausgehen. Dieser Umbruchprozess umfasst alle Ebenen der Organisationen: von den Geschäftsmodellen über die Innovationsstrategien und Wertschöpfungssysteme bis hin zur Organisation von Arbeit. Kurz gesagt: Unternehmen müssen sich komplett neu erfinden.

Eine Studie des World Economic Forum 2018 kommt zu dem Ergebnis, dass durch den digitalen Umbruch der Arbeitswelt vor allem Jobs von Frauen betroffen sind. Warum?

Risiken für Frauen sehe ich vor allem in den Bereichen, wo Digitalisierung auf Routinearbeiten trifft, beispielsweise in der Verwaltung, Sachbearbeitung, im Controlling oder in Call-Centern. Hier ist der Frauenanteil hoch. Gleichzeitig fallen repetitive Tätigkeiten an, die oftmals flexibel in Teilzeit erledigt werden. Deswegen trifft die zunehmende Automatisierung Frauen in solchen Arbeitsbereichen überproportional stark. Zugleich muss man aber auch sehen, dass im Zuge der Digitalisierung auch neue Tätigkeitsfelder entstehen. Hierauf müssen wir die Beschäftigten vorbereiten und sie für ihre neuen Tätigkeiten qualifizieren.

Corona hat auch die bestehenden Ungleichheiten der Geschlechter bezüglich ihrer Chancen auf dem Arbeitsmarkt wie unter einem Brennglas stärker sichtbar werden lassen.

Dr. Kira Marrs

Corona beschleunigt die Digitalisierung. Wir arbeiten inzwischen flexibler, eigenverantwortlicher und vernetzter. Für Frauen bedeutete der erste Lockdown aber vor allem eine Rückkehr zum klassischen Rollenmodell.

Diese Beobachtung teile ich. Als während des ersten Lockdowns im Frühjahr die Schulen, Kindergärten und Krippen schließen mussten, haben Frauen faktisch die Hauptlast der häuslichen Kinderbetreuung übernommen. Corona hat damit seit Jahrzehnten bekannte strukturelle Probleme wie Gender Pay Gap und Gender Care Gap verdichtet. Das Phänomen ist lange bekannt: Bei geringerem Gehalt für gleiche Arbeit, schlechter Betreuungssituation und Ehegattensplittung, entscheiden Familien sich nach wie vor überwiegend zugunsten des Haupternährers.

Hinzu kommt: Viele Beschäftigte mit Zeitarbeitsverträgen in Branchen mit unterdurchschnittlicher Vergütung wie Gastronomie und Tourismus haben ihre Arbeit verloren. Darunter waren viele Frauen. Und es sind häufig auch Frauen, die in anerkannt systemrelevanten Branchen wie Gesundheit und Pflege arbeiten, wo sie nicht die Bezahlung erhalten, die sie aufgrund ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung erhalten sollten.

Insgesamt müssen wir feststellen, dass Corona nicht nur zu Einkommenseinbußen führt, die umso stärker ins Gewicht fallen je niedriger das Einkommen ist und damit vor allem Frauen treffen. Corona hat auch die bestehenden Ungleichheiten der Geschlechter bezüglich ihrer Chancen auf dem Arbeitsmarkt wie unter einem Brennglas stärker sichtbar werden lassen.

Kann die digitale Transformation tradierte Geschlechterrollen verändern?

Ich denke ja. Der erste Schritt ist, dass wir endlich anerkennen, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie systemrelevant für die Wirtschaft ist. Und im zweiten Schritt müssen wir uns dann fragen, wie die Arbeitszeitmodelle der Zukunft aussehen könnten. Denn die Digitalisierung führt nicht nur zu Produktivitätsgewinnen, sondern auch zu Veränderungen in der Organisation von Arbeit. An diesen Veränderungen müssen wir anknüpfen, wenn wir flexible Arbeitszeitmodelle entwickeln wollen. Entscheidend ist also, dass wir – nicht nur mit Blick auf Corona, sondern grundsätzlich – die Optionen, die uns der digitale Umbruch für eine solche Neuorganisation bietet, von Beginn an mit Gendergerechtigkeit zusammen denken und die Arbeitswelt chancengleich gestalten.

Lassen Sie uns zu den Auswirkungen der digitalen Transformation auf die Arbeit kommen. Welche Veränderungen sehen Sie hier?

Durch die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt nehmen Kollaboration und Vernetzung zu. Digitale Produkte und Entwicklungen sind so komplex, dass Aufgaben und Prozessschritte nicht mehr nach Disziplinen aufgeteilt und dann separat abgearbeitet werden können. Unternehmen setzen deshalb zunehmend auf interdisziplinäre Teams, bei denen Expertinnen und Experten unterschiedlicher Professionen agil zusammenarbeiten. Damit verändern sich die Anforderungen an ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Gut vernetzte Generalisten ersetzen ein Stück weit die hochqualifizierten Spezialisten.

Und wo einzelne Experten nicht mehr nur in ihrem Silo sitzen, sondern Teil eines weit verzweigten Teams sind, wird das Teilen von Wissen unentbehrlich und damit auch die Fähigkeit, die eigene Expertise zu vermitteln und so in arbeitsteilige Produktionsprozesse einfließen zu lassen. Fachwissen bleibt natürlich weiterhin essentiell. Ohne interdisziplinäres Denken und die Verknüpfung von Kompetenzen droht es jedoch wertlos zu werden.

Wo genau liegen hier die Chancen für Frauen?

In der digitalen Arbeitswelt werden kommunikative, integrative und soziale Fähigkeiten immer wichtiger, und zwar nicht als weiche Faktoren. Sie sind vielmehr essenziell für die kollektive Intelligenz interdisziplinärer Teams. Aus Soft Skills werden also zunehmend Hard Skills. Gerade diese Kompetenzen werden bislang bei Frauen stärker adressiert als bei Männern und Unternehmen messen diesen Fähigkeiten mittlerweile auch eine neue Bedeutung bei. Dies kann Frauen die Türen öffnen, zum Beispiel in die hochqualifizierten Bereiche der heute von Männern dominierten technischen Berufe.

Entstehen durch diese veränderte Arbeitsweise auch Karrierehemmnisse für Frauen?

Sicher. Und wie nahe Chancen und Risiken beieinander liegen zeigt die „Unkultur permanenter Verfügbarkeit“. Denn mit der Digitalisierung und Mobile Office steigen erst einmal die Verfügbarkeitserwartungen an die Beschäftigten. Die Option, anytime und anyplace arbeiten zu können, die auf den ersten Blick so attraktiv erscheint, kann angesichts dieser Erwartungen schnell in eine Belastung umschlagen. Denn viele Mitarbeitende können sich diesem Druck nur schwer entziehen. In der Folge verschwimmt die Grenze zwischen Privatleben und Berufsleben und Arbeit nimmt einen immer größeren Raum im Leben ein. Was bedeutet Teilzeit, wenn Arbeit sämtliche Lebensbereiche durchdringt und eine permanente Erreichbarkeit gefordert ist? Was ist dann noch die Hälfte von allem?

Welche Veränderung sehen Sie bei Führung und Zusammenarbeit?

Alte Managementkulturen stoßen in einer kollaborativen und vernetzten Arbeitswelt an ihre Grenzen. Weil Unternehmen immer stärker auf funktionierende Teams angewiesen sind, müssen sie Führung und Zusammenarbeit neu denken. Gerade die Lernerfahrungen in der Corona-Krise machen wie in einem Brennglas sichtbar, wie ein neuer Führungskräftetypus ausgestattet sein muss. Wenn das Betriebsgebäude als Ort der Begegnung, der Kooperation und der Kontrolle wegfallen, brechen auch die Fundamente weg, die das tradierte Führungsverständnis getragen haben. Damit bleibt auch der bisher übliche soziale und informelle Austausch weitgehend auf der Strecke. Die Menschen empfinden das als Defizit. Und in einer solchen Situation wird aktive kommunikative Führungsarbeit immer wichtiger, um soziale Nähe herzustellen und das Miteinander zu stärken. ‚Digitale‘ Führung basiert außerdem auf Vertrauen und Kommunikation. Führungskräfte müssen also ihre Mitarbeitenden stärker involvieren und ihnen mehr Eigenverantwortung übertragen als bislang. Agile Arbeitsformen, die wir ja mittlerweile aus vielen Bereichen kennen, sind hier der richtige Weg. Statt auf hierarchisches Denken setzen sie auf Team-Empowerment und geteilte Führung. Teambasiert denken und ganzheitlich auf die Leistung des Teams aufbauen: Das sind moderne Ansätze, die Führung für Frauen deutlich attraktiver machen können.

Wird Führung also im digitalen Zeitalter weiblich(er)?

Unsere Forschung zeigt zumindest, dass Frauen sich zu diesen neuen Führungsrollen stärker hingezogen fühlen, während sie sich mit dem Bild des durchsetzungsstarken Machers im aggressiven Managementumfeld kaum identifizieren können. Digitalisierung kann so für Frauen neue Chancen bieten.

Teambasiert denken und ganzheitlich auf die Leistung des Teams aufbauen: Das sind moderne Ansätze, die Führung für Frauen deutlich attraktiver machen können.

Dr. Kira Marrs

Die Geschwindigkeit und Komplexität neuer Themenfelder und Technologien nimmt ständig zu. Das ruft Bedenken, wenn nicht gar Ängste hervor. Wie können Arbeitgeber diesen begegnen?

Die zentrale Frage lautet doch: Wie gelingt es, den Umbruch mit den Menschen zu gestalten? Denn Transformationsprozesse funktionieren nicht über die Köpfe der Menschen hinweg. Der Wandel muss von ihnen getragen, vorangetrieben und in der Praxis gelebt werden. Vertrauen ist hier der zentrale Erfolgsfaktor. Was wir in den Unternehmen brauchen sind ergebnisoffene Lern- und Experimentierräume, in denen wir lernen, Neuland zu gestalten. Denn angesichts des offenen Umbruchs, in dem wir uns befinden, können wir nicht wissen wie die Zukunft aussehen wird. Die Veränderungen in Richtung dieser ungewissen Zukunft aber müssen wir als einen kollektiven Lernprozess gestalten und dabei von Beginn an die Interessen und Perspektiven von Frauen und Männern integrieren.

Wie kann so ein kollektiver Lernprozess aussehen?

Solche Lernprozesse laufen bereits – quer durch die verschiedenen Branchen und auch nicht erst in der Corona-Krise. Zum Beispiel arbeiten wir bei einem großen Automobilhersteller mit Frauen in der Produktion an der Frage: Wie kann das starre Schichtsystem innerhalb der getakteten Produktion flexibilisiert werden? Dass Produktionsbeschäftige ihre Arbeitszeiten in einem ergebnisoffenen Prozess mitgestalten können, ist Ausdruck eines gewaltigen Umdenkens.

Wer hätte gedacht, dass dies möglich ist? Wir setzen dazu auf das von uns entwickelte Konzept des Betrieblichen Praxislaboratorium, das agil, beteiligungsorientiert und sozialpartnerschaftlich Lern- und Experimentierräume ermöglicht. Was uns mit Blick auf die Labs wirklich Mut macht: Der Blick in die Praxis der Unternehmen zeigt deutlich, dass gerade Frauen Treiberinnen und Gestalterinnen dieser Prozesse sind.

Wenn wir konsequent über die Auswirkungen von Digitalisierung auf beide Geschlechter, Frauen und Männer, nachdenken, finden wir auch Lösungen für alle.

Dr. Kira Marrs

Wie können Unternehmen beruflichen Entwicklungs- und Karrierechancen fördern?

Die Digitalisierung gibt den Unternehmen im Moment nahezu eine Steilvorlage, um tradierte Präsenzkulturen und starre Karrierevorstellungen aufzubrechen und nicht-lineare Entwicklungswege zu legitimieren. Gefragt ist ein neues Karriereverständnis, das den Menschen ermöglicht, ihre Karriere souverän zu gestalten und den Karriereprozess für das Leben und damit vor allem für Frauen zu öffnen.

Außerdem, wenn Beschäftigte agil sind und sich permanent weiterentwickeln, müssen Unternehmen dies auch incentivieren: durch lebensphasensensible Entwicklungskonzepte, ‚späte Karrieren‘ und durch ‚Karriere in Teilzeit‘. 

Welche Botschaft möchten Sie uns mit auf die digitale Reise geben?

Mit der Digitalisierung erleben wir einen epochalen Umbruch. Daher benötigen wir eine Leitvorstellung, wie wir den digitalen Umbruch im Sinne der Menschen und der Gesellschaft gestalten können. Die grundlegenden Veränderungen in den Unternehmen dürfen wir nicht über die Köpfe der Mitarbeiter hinweg vorantreiben. Es braucht daher eine Perspektive, die die Beschäftigten und ihren Beitrag sowie deren Bedürfnisse in den Mittelpunkt rückt und sie an der Ausgestaltung der neuen Arbeitswelt beteiligt.

Digitalisierung muss die Menschen adressieren und ihnen Lust auf Zukunft machen. Wenn wir konsequent über die Auswirkungen von Digitalisierung auf beide Geschlechter, Frauen und Männer, nachdenken, finden wir auch Lösungen für alle. Chancengleichheit gibt es nur, wenn wir die Männer bei diesen Überlegungen mitnehmen. Die Entwicklungschancen von Frauen sind somit der Lackmustest für eine menschengerechte und nachhaltige Gestaltung der Arbeitswelt von morgen.

Das Gespräch führte Sabine Palka

Fotograf: Ingo Cordes